Neue Orte, neue Opern?

Opera Where It Doesn’t Exist. Von der Peripherie in die Zukunft

Die Kulturpraxis der Oper ist seit über 400 Jahren sehr lebendig – und steht dennoch auf einem Kipppunkt. Diesem Zusammenhang widmete sich die Tagung des Teilprojekts „Die Oper als kulturelles Erbe“ vom 15.-17.5.2024. Ziel war es, die Kulturform der Oper von einem neuen Standpunkt aus zu beleuchten, an dem die Oper normalerweise gar nicht existiert: dem ländlichen Raum, und hier an einem zutiefst natürlich geprägten Ort: dem Strand.

Zahlreiche Neuerungen haben sich in den letzten Jahrzehnten in der Opernpraxis ereignet, von der Kritik am Klassismus der avisierten Publika und an der mangelnden Diversität von Leitungen, Ensembles und Repertoire über die Erarbeitung nachhaltiger Produktionsweisen bis hin zu durchlässigeren Opernhausarchitekturen, die den Drang der Oper hin zu neuen Publika auf den benachbarten Straßen und Plätzen untermauern. Besonders augenfällig wird dies anhand von Theaterprojekten aus den Bereichen Theaterpädagogik und community opera, wie die Musiktheaterwissenschaftlerin Christine Plank-Baldauf und die Theaterpädagogin Vanessa Zuber im ersten Tagungsteil berichteten. Aber auch die Produktionen für die Säle in den Opernhäusern sind mittlerweile anders gestaltet, indem sie pasticcioartige Formen und Anregungen der angrenzenden Darstellenden Künste mit einbeziehen anstatt fixierte Werke mit neu erarbeiteten Regiekonzepten schlicht umzusetzen. Vor diesem Hintergrund hat sich nicht zuletzt der Blick auf den Unterschied zwischen sogenannten kleinen und großen Häusern geändert, die in unterschiedlich flexibler Weise auf die oben genannten Aktualisierungen eingehen oder sich darauf einstellen können, so der Dramaturg des Theaters an der Wien, Kai Weßler. Auch haben sich bereits neue Formen der Zusammenarbeit ergeben, die der freie Dramaturg Philipp Amelungsen am Beispiel einer von ihm mit vorbereiteten und betreuten Produktion für das Mecklenburgische Staatstheater in Zusammenarbeit mit den Wiener Festwochen, der Staatsoper Stuttgart und der Berliner Volksbühne erläuterte. Der Musikwissenschaftlerin Friederike Wißmann zufolge passen sich etablierte Praktiken der Opernproduktion insofern an die Neuausrichtungen an, als dass sie Orientierungspunkte und vielleicht auch Grenzen für rekonstruierende Projekte wie die historische Aufführungspraxis der Musikdramen Richard Wagners markieren.

Was passiert aber nun, wenn die Praxis der Aufführung und Rezeption von Opern aus dem Opernhaus herausgelöst und an den Strand verlagert wird? Welche Impulse können von der Produktion an einem solch peripheren Ort zwischen Land und Wasser für die etablierte Opernwelt ausgehen? Dieser Frage näherte sich der Tagungsteil mit Ausführungen zur Kulturpolitik in ländlichen Räumen durch die Humangeographin Christine Tamasy, durch eine Geschichte von Performances am Strand durch die Kunstgeschichtlerin Antje Kempe sowie durch einen Vortrag zu Musik am Strand im Rahmen von Flucht und Vertreibung des Musikethnologen Sean Prieske. Der Aspekt der Versorgung bestimmt die politischen Konturen des ländlichen Raums maßgeblich mit, sodass die Deckung kultureller Angebote bei den Förderungen ländlicher Räume im Hinblick auf Bevölkerungsentwicklungen, landwirtschaftlicher oder klimafreundlicher Aktionspläne stark in den Hintergrund tritt. In der Kunst wird der Strand als naturkulturelle Verbindung genutzt, gleichzeitig bekommen die Performances am Strand als Kunstwerke liminale und nicht auf Dauer angelegte Ästhetiken, die sowohl mit dem Strandraum als Warteraum, als Raum für Spektakel, aber auch als Ort der Instabilität und der Katastrophe zusammenhängen können. Was machen wir also am Strand mit der Oper, aber auch: was macht der Strand mit der Oper und uns? – so der zusammenfassende Aufruf aus der musikethnologischen Perspektive.

Erprobt wurde diese Frage anhand einer Operninszenierung an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst, die zwischen den Tagungsteilen am 16.5.24 am Nordstrand auf Rügen unter der Leitung der Leipziger Musiktheater-Regisseurin Anja Christin Winkler und der Dramaturgin Ilka Seifert stattfand. Sie basierte auf den Opernfiguren, die von den beteiligten Wissenschaftler:innen im Vorfeld für eine Oper der Zukunft vorgeschlagen worden waren: Isolde von Richard Wagner oder doch Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti? Marquis Posa aus Verdis Don Carlos oder Don Giovanni aus der gleichnamigen Mozart-Oper? Oder gleich strandbezogene Figuren wie Dvoraks Rusalka? Framing wurde ernstgenommen am Nordstrand auf Rügen, der zwischen einem aufgebauten Bühnenrahmen und dem Blick aufs Meer fokussiert wurde; buchstäbliches Abwägen mit einer aufgestellten Waage, in die die Tagungsgemeinschaft von den Sänger:innen aufgefordert wurde, ihr Gewicht in Form von Strandgut zu legen; Loslassen, zum Schluss der Oper, wo es keine gibt, nachdem der Bühnenrahmen zum Floß umfunktioniert und mit einem neutralen Figurenkostüm auf einem Notenständer aufs Meer zum Gesang von Monteverdis Speranza (Hoffnung) gelassen ward. Auf letzteres hatten sich die beteiligten Studierenden der Kompositionsklasse der hmt Rostock, des B.A.-Studiengangs Musikwissenschaft der Universität Greifswald und des M.A. Dramaturgie der hmt Leipzig gemeinsam verständigt. Keine der beteiligten Opernfiguren sollte hervorgehoben werden, etwas Neues sollte entstehen.

Was die Oper am Strand vorher mitgeliefert hatte, waren nichts weniger als die Umrisse einer künstlerisch-wissenschaftlichen Theorie der Opernfigur, die bisher weder in der Musiktheaterwissenschaft, noch in den einzelnen Philologien oder der Theaterwissenschaft wirklich existieren: In der Inszenierung standen die Opernfiguren in einem Dialog, der nicht nur ihre Dramaturgien, sondern auch ihre stilistischen Konturen anhand der natürlichen, gezeitenorientierten Rahmungen auflöste, sie einander annäherte bis zur Blockhaftigkeit der Opernpraxis selbst, in der sich einzelne Figuren auf unterschiedliche Arten und Weisen Gehör und Sichtbarkeit zwischen Land und Meer verschaffen. Die Oper war am Ende frei, wie die verhallenden Trompeten- und Akkordeonklänge gedämpft, die Opernausstattung alarmrot und das neutrale Figurenkostüm auf dem Notenständer weiß, unbeschrieben und segelhaft aufgebläht.

Die Tagung mit Operninszenierung betrat insofern Neuland, als eine intergenerationelle, praktische wie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer Kulturform erprobt wurde, die sowohl in theoretischer wie auch künstlerischer Hinsicht weitergeschrieben werden kann. Der akustisch einschränkende und visuell inspirierende Ort Strand auf Nordrügen verhalf den Mitwirkenden Sänger:innen, Musiker:innen, Studierenden, Wissenschaftler:innen, Dokumtentierenden und Organisator:innen zu einer ausgeglichenen Sichtbarkeit; ihre freie Bewegung antizipierte die Freilassung der Oper selbst, als Werk, als Inszenierung und als Rezeption, wobei der Operngesang der Figuren und deren Begleitung als flexibel und gleichzeitig ebenso wirkungsvoll auch am Strand erschien. Die Oper am Strand stellt dabei sicherlich veränderte Ansprüche an tradierte Klangideale von Gesang und orchestraler Interpretation und verlegt diese nicht zuletzt auch akustisch an einen herausfordernden Ort. Dennoch wirken sie fort und können die Zuhörenden ergreifen – erst recht, wenn sie im Kollektiv gestaltet, bewegt und reflektiert werden. Weder Kollektiv noch Partizipation noch künstlerische Exzellenz, sondern ihr Zusammenwirken und der gleichberechtigte Dialog in der Reflexion machen das Projekt vielversprechend – vor allem auch als Ausgangspunkt, um über tradierte Musiktheaterformen nachzudenken.

Im Kulturjournal von NDR1 wurde die Operntagung ebenfalls besprochen und O-Töne der Beteiligten eingefangen. Der Beitrag ist hier zu hören (© NDR Landesfunkhaus Mecklenburg-Vorpommern).

Ein Kurzfilm von Holger Stark ist ebenfalls in Arbeit.